Samstag, 17. Januar 2009

Crazy, crazy day, part 3

18.10 in der S-Bahn Richtung Friedrichstraße
Lars und ich machen Brotzeit. Das frische Zwiebelbrot wir mitten in der S-Bahn mit dem blauen BLUBBAR Messer geschnitten und in den Frischkäse gedippt. Das mag für die anderen Fahrgäste etwas unappetitlich aussehen, aber es lässt sich nicht ändern. Wir haben Hunger. Wir wissen, dass wir über sechs Stunden arbeiten müssen und wir wissen nicht, wann und ob wir bei dieser historischen Veranstaltung des heutigen Tages Pause zum Essen kriegen, wenn unsere Oberchefs im Haus sind und uns bei der Arbeit kontrollieren. Also wird heute in der S5 geabendbrotet.

18.33 im Foyer der Staatsoper
Was für eine Hektik! Fünf verschiedene Filmteams laufen aufgeregt durchs Haus. Auf dem Bebelplatz stehen drei verschiedene Ü-Wagen und Busser verschiedener Fernseh- und Radiosender. Auf der anderen Seite der Oper stehen die zahlreiche große Polizeiautos. Ein roter Teppich im Foyer ist ausgelegt, eine Ecke für Fernsehinterview zurechtgemacht. Irgendwie sind mir das viel zu viele Menschen mit viel zu vielen Fragen. Vor allem weil sich die Medienleute immer für unglaublich wichtig halten und sich aufregen, wenn wir sie in bestimmte Bereiche nicht durchlassen. Ha, wahrscheinlich bin ich später ganz genau so! Ein zickige arrogante Medientante, die sich immer überall vordrängelt. Ich kleines bisschen freue ich mich darauf schon..

18.45 im ersten Rang
Dienstbeginn. Ich muss gefühlte 1000 kleine Zettelchen mit einem Statement des Orchesters zur Situation im Gaza in Programme des heutigen Abends einlegen, während viele wichtige und weniger wichtige Menschen mit Handy an den Ohren aufgeregt von A nach B laufen und ganz furchtbar gestresst aussehen.

19.00 Einlassbeginn
Ich weiß nicht, ob ich noch ein paar Minuten sitzen bleiben kann oder nicht, weil ich nicht weiß, ob die Menschen, die die Treppe hochkommen nun Journalisten, Polizisten in Zivil oder richtige zahlende Gäste sind, für die ich mich zu meinem Verkaufstisch begeben müsste. Weil jederzeit einer meiner Chefs kommen könnte, entscheiden wir uns fürs Einnehmen unserer Positionen.
Irgendwelche Techniker irgendeines Filmteams wollen in die Mittelloge, um sich die Probe anzschauen, weil ihre Chefin das versprochen hat. Meine Kollegin diskutiert mit ihnen und erklärt, dass unsere Chefin davon wenig begeistert wäre. Mein Kollege und ich unterhalten uns derweil lieber über die Freuden und Leiden von Serviceberufen.

19.35 auf Position 1M
Der Rang füllt sich mit zahlenden Gästen, die Programme kaufen wollen. Mein Portmonee wird mit den vielen Zwei-Euro-Stücken schwer und unhandlich. Die Gäste schwärmen von dieser wunderbaren Gelegenheit ein ganz besonderes Orchester zu sehen und stellen mir massenhaft Fragen zum Programm des heutigen Abends. Ich lächle sie an und sage ihnen, dass ich Filmwissenschaftlerin sei und keine Musikwissenschaftlerin. Meine Kollegin beantwortet als angehende Sängerin und Liebhaberin der klassischen die Musik gern die Fragen der Gäste.

19.58 vor der Mittelloge
Herr Köhler, seine Frau und gefühlte zehn dazugehörige Bodyguards betreten den Rang und werden auf ihren Platz in der Mittelloge begleitet. Ich bin bass erstaunt. Ich wusste ja gar nicht, dass unser werter Bundespräsident tatsächlich pünktlich zu Opernabenden erscheinen kann. Das hat er bis jetzt doch nie geschafft. Glücklicherweise versorgt ihn eine Dame vom Haus mit Programmheften. So geifen seine Bodyguards dieses Mal nicht unaufgefordert nach den Programmbüchern, ohne diese zu bezahlen.

20.08
Die Türen sind zu. Das Orchester beginnt zu spielen. Ich sinke erschöpft in einen Polsterstuhl, versorge Köhler Bodyguard mit den Informationen zum Ablauf des Stücks und hole mein Tagebuch raus, um über den aufregenden Tag zu berichten. Der Bodyguard fragt höflich, ob es mich stört, wenn er neben mir sitzen bleibt. Ich muss fast lachen. Schließlich ist es mein Job hier zu sitzen und aufzupassen und sein Job hier zu sitzen und aufzupassen. Er tut mir ein bisschen Leid, weil er sich nicht zu lesen mitgenommen hat und überlege, ob ich ihm was zu lesen anbieten könnte, komme dann aber zu dem Schluss, dass ihn Richard Dyer wohl nicht so interessieren wird und ich mein Tagebuch zur Lektüre nicht hergeben werde.

21.55 immer noch im ersten Rang
Weil ich nichts zu lernen habe, schreibe ich tatsächlich fast zwei Stunden lang Tagebuch. Aber langsam fällt mir auch nichts mehr ein. Der Bodyguard und ich warten ungeduldig darauf, dass der zweite Teil endlich fertig ist. Die angegeben 40 Minuten sind längst vorbei. In fünf Minuten beginnt der Einlass fürs zweite Konzert und alle ahnen, wie chaotisch das werden wird. Die Frau vom Haus, die für Köhlers Wohlergehen zuständig zu sein scheint, beklagt sich, dass Barenboim sich um so organisatorische Dinge überhaupt nicht kümmere und deshalb zu langsam dirigiere. Ich nicke und stelle mir/ihr die Frage, wer sich eigentlich um 23 Uhr ein Konzert in der Oper anhören wird und erkläre, dass meine Eltern schon um 22 Uhr im Bett sind. Die Frau ist der Ansicht, das sei ein Stadt-Land-Unterschied. Ich bezweifle, dass meine Eltern später ins Bett gehen würden, wenn sie in einer großen Stadt wohnen würden und erzähle ihr, dass die Ampel in meinem Heimatsort schon um 20 Uhr ausgeht.

22.07 Garderobe links, letztes Fenster
Das Orchester ist endlich fertig. Ich stehe neben meinem Oberchef und beruhige ihn, dass er sich keine Sorgen machen muss, wenn er mit der Ausgabe zu langsam ist, weil er keine Übung mehr hat und versichere ihm, dass ich total schnell bin. Nach einer kurzen Vorführung bei der Ausgabe eines Mantels ist er überzeugt und tief beeindruckt.

22.09
Zwei Fenster weiter
fängt meine Kollegin an zu kreischen. Alle gucken ein paar Sekunden etwas überrascht in ihre Richtung, bis wir begreifen, dass eine andere Kollegin steif am Boden liegt. Ich springe über den Tresen, sprinte ins Parkett hoch und mache Gebrauch von kräftigen Stimme und schreie aufgeregt nach einem Arzt. Der Theaterarzt ist auf die Schnelle nicht aufzufinden, meine Kollegin, die wissen müsste, wer es ist, auch nicht. Ich schreie einfach weiter, bis eine junge Frau reagiert, die Ärztin ist und mit mir zurück sprintet und über den Tresen springt.
Nachdem ich weiß, dass die krampfende Kollegin versorgt wird, gehe ich zurück auf Position und teile eilig Mäntel, Taschen, Hüte und Schirme aus. Ich zittere und mir ist ein bisschen schlecht irgendwie. Ich wusste bis eben gar nicht, dass ich so schnell rennen kann. Und das auf Pumps. Hätte ich einen solchen Sprint mal bei den Bundesjugendspielen 1995 hingelegt, hätte ich möglicherweise sogar eine Siegerurkunde bekommen.

Die Gäste fragen neugierig, was los sei. Die Ärztin schreit nach der Feuerwehr. Wir haben, die Dienstanweisungen befolgend, keine Handys dabei. Empfang gibt's hier sowieso nicht. Nach dem dritten Aufruf können wir unseren Chef dazu bringen, sein Handy zu nutzen und den Krankenwagen zu rufen. Inzwischen ist auch ein Mann von der Brandsicherheitswache bei der Kollegin. Nur der Theaterarzt tauch nicht auf.
Wenn ich zu den Jacken jenseits der Nummer 364 will, muss ich über die krampfende Kollegin rübersteigen und fühle mich wie im Krieg.
Die Gäste der zweiten Vorstellung sind in inzwischen auch schon da und möchten ihre Jacken bei mir abgeben. Ich erkläre ihnen, dass sie damit bitte zur mobilen Garderobe gehen sollen, da wir mit dem Auslass beschäftigt sind. Die Gäste gucken mich beleidigt an und gehen nicht weg.
Ich renne mit schweren Mänteln hin und her und schwitze unter meinem Blazer das ganze Hemd durch. Ich habe Hunger. Ich habe Durst!

22.25
Die Garderobe leert sich langsam und ich entscheide, dass ich jetzt wohl besser auf meine eigentlich Position zurückkehre und ein paar Programme verkaufe. Oben angekommen trinke ich unterm Wasserhahn erstmal einen halben Liter eklig rostiges Wasser, ziehe meinen Blazer aus und erzähle meiner unwissenden Kollegin vom Drama im Keller.
Wir machen uns Gedanken und vergessen dabei ein wenig, dass wir eigentlich zum Arbeiten hier sind und nicht zum Kaffeeklatsch.

22.33 1.Rang
Mein Kollege kommt von der Garderobe hoch und erzählt furchtbare Geschichten von epileptischen Anfällen und Unterversorgung des Gehirns und Absterben der Gehirnzellen. Mir wird schlecht, weil ich das nicht abkann und ich seit viereinhalb Stunden nichts gegessen habe. Ich sage ihm, dass er aufhören muss, weil ich sonst in Ohnmacht falle.

22.40
Von irgendwoher kommt das Gerücht auf, dass die Garderobieren unten völlig überfordert sind, sodass meine Kollegen zur Aushilfe runterlaufen und mich mit dem Rang allein lassen. Ich sage, dass ich das schaffe und versuche, eine Holzkiste Programme auf meiner Hüfte zu balancieren und gleichzeitig die schweren Türen zum Saal zu öffnen.

22.42
Meine Einsatzleiterin kommt vorbei und ist wenig begeistert, dass meine Kollegen ohne Anweisung ihre Positionen verlassen haben, ich allein auf dem Rang herumlaufe und die Arbeit für drei mache.

22.57
Meine Einsatzleiterin teil mit, dass wir eine Viertelstunde später anfangen werden, weil die Musiker ein bisschen mehr Verschnaufpause zwischen den Konzerten brauchen und keiner so richtig weiß, ob das zweite Konzert mit oder ohne Pause gespielt wird. Weil ich eh keine Programme mehr habe, bekomme ich die Aufgabe durch's Haus zu laufen und meine Kollegen zu informieren. Ich laufe in den dritten Rang und gebe meinen Kollegin Bescheid, die böse gucken. Ich denke an das Alte Rom (oder war es Griechenland), wo die Überbringer schlechter Nachrichten umgebracht wurden und bin froh im Deutschland des 21. Jahrhunderts zu sein.

23.30 Damenumkleide
Das Konzert hat endlich angefangen und die Abrechnung ist gemacht. Ich laufe in die Umkleidekabine zu meinem Zwiebelbrot und reiße mir ein bisschen was ab, um was gegen das Zittern zu tun. Lars ist auch schon da, weil er ebenfalls Hunger hat. Wir entscheiden, dass wir unbedingt noch feiern gehen müssen, weil wir uns das wirklich verdient haben.
Ich hole die Flasche Rotkäppchen Rubin aus meinem Spind und gebe sie meiner Einsatzleiterin, damit sie auf dem Fensterbrett kalt gestellt werden kann.

0.15 1. Rang links
Ich entscheide, dass ich zu fertig und überdreht bin, um noch an der Reportage zu arbeiten, schreibe lieber weiter Tagebuch und stöhne zusammen mit den Kollegen über unsere undankbaren Arbeitszeiten.

0.40
Garderobe links
Das Konzert ist endlich zuende. Ich schmeiße den Gästen überschwänglich ihre Mäntel entgegen und wünsche ihnen eine gute Nacht. Ich möchte sagen, geht jetzt sofort nach Hause und kommt nicht auf die Idee, im Foyer noch einen Klönschnack mit euren Kulturtantenfreundinnen abzuhalten.


0.55 Parkett links
Die Mäntel sind weg! Die Gäste auch! Ich trage mich aus. Meine Einsatzleiterin gibt mir meinen Sekt. Alle Kollegin gucken komisch. Ich sage nur, dass ich mir den heute wirklich verdient habe und gehe mich schnell umziehen. Feierabend!



5 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

meine heutige lieblingsstelle ist die, wo du allen erzählst mit deinem tollen lächeln dass du fülmwissenschaftlerin bist...

Anonym hat gesagt…

Was für ein Tag. Das Gläschen Sekt hattest Du Dir wirklich verdient!

Anonym hat gesagt…

Welche Ampel? Der Kreisel ist immer 'an'. Fängt bei den Stadtmenschen denn die Arbeit/Schule/ Kindergarten etc. auch später an? Oder hat man in Berlin, der Stadt der Arbeitslosen, vergessen, dass ein durchschnittlicher deutscher Arbeitnehmer zwischen 5.30 und 7 Uhr (morgens) aufstehen muss???

Anonym hat gesagt…

Nach dem Lesen bin ich ganz erschöpft... aber auch erheitert, natürlich! Ich hoffe, du empfindest diesen Tag auch als "special event" und nicht nur als verrückt und anstrengend!

Max hat gesagt…

Ein krasser Tag, und schøn geschildert. Vielleicht solltest du deine Karla-Kolumna Tagebücher auch verøffentlichen?
Na und Jana's therapeutischer Kommentar ist natürlich auch nicht schlecht ;)