Eigentlich habe ich keine Zeit zu bloggen. Eigentlich sollte ich andere viel wichtiger, lebensentscheidendere Dinge schreiben. Einen nicht-tabellarischen Lebenslauf zum Beispiel. Oder einen Reportage über fahrende Händler in Deutschland. Und einen Brief an meine Krankenkasse.
Aber als ich gestern Abend um zwanzig nach zehn zitternd und mit einem flauen Gefühl im Magen neben meinen Oberchef in der Garderobe stand, aufgeregt Mäntel austeilen und dabei über meine bewusstlose Kollegin klettern musste, da dachte ich mir, dass ich diesen Tag einfach nicht wortlos vorrüberziehen lassen dürfe. Viel zu viel. Viel zu lang. Viel zu aufregend. Viel zu anstrengend. Viel zu viel Adrenalin.
Here we go.
8.15.
Auf Lars' Sofa.mein Wecker klingelt. Viel zu früh für mich. Zumal ich unruhig geschlafen, wirr geträumt und zwischendurch immer wieder an schöne Frauen in glitzernden Kostümen bei Berkeley und Gene Kellys Regenschirm gedacht habe. So oder so ähnlich. Also, schnell schick anziehen und Haare hoch. Frühstücken kann ich nicht, das ist mir zu früh und ein klitzekleine-tiny-weeny-wee aufgeregt bin ich vielleicht doch. Also nur ein viel zu heißer Tee, von dem ich gerade mal ein Viertel schaffe.
8.52 M10 Richtung Warschauer Straße.Meine Güte, sind die Bahnen zu früher Stunde voll. Das merke ich ja sonst nie. Ich habe zu meinen normalen Zeiten immer nur ein paar Rentner, Touristen und Motz-Verkäufer in der Bahn. Haben die Leute alle kein zu Hause? Oder ungemütliche Betten?
9.08 U1 Richtung Uhlandstraße.
Endlich hinsetzen. Karteikarten raus und alles nochmal lesen. Was habe ich nur für eine furchtbare Sauklaue?! Überall fehlen Buchstaben, Klammern oder gleich ganze Worte. Da kann ich ja gleich gucken, wie gut ich gelernt habe. Wenn ich die fehlenden Buchstaben und Begriffe im Kopf ergänze kann, kann ja nichts schiefgehen.
9.25 U Bahnhof Kurfürstendamm. Die U9 fährt mir beim Umsteigen vor der Nase weg und ich ärger mich, was die BVG mir da schon wieder für eine Verbindung rausgesucht hat. Kein Mensch kann schneller gehen (also umsteigen) als ich. Wie soll man es denn in einer halben Minute vom einen Ende der U1 runter zur U9 schaffen??? Wenn die nächste Bahn erst in drei Minuten kommt und ich noch den X83er als Anschluss kriegen muss, der sowieso immer so unzuverlässig ist, wie soll ich denn dann so rechtzeitig am Institut sein, dass ich vorher nochmal aufs Klo kann. Grrr. Also setze ich mich hin und esse drei Handvoll Smacks und sehe dabei aus wie Krümelmonster.
9.39 S und U Bahnhof Steglitz.Alles wird gut. Ich nehme den richtigen Ausgang vom U Bahnhof (und das ist gar nicht so einfach) und stehe zwischen zig anderen Studenten an der richtigen Bushaltestelle. Der X83er kommt nach zwei Minuten und lässt uns verbotenerweise hinten einsteigen, sodass ich nicht auch noch nach meinem Ticket kramen muss.
9.50 Institut für Filmwissenschaft, vorm Büro meiner Professorin.Wir warten auf den Protokollanten. Währenddessen unterhält sich meine Professorin mit dem anderen Professoren des Instituts über ihr Wochenende: "Na, wie war dein Wochenende?" - "Ganz gut, ein bisschen langweilig. Ich bin viel spazieren gegangen." - "Ist doch gut." - "Ja, schon. Was hast du denn gemacht." -"Wir hatten Besuch. Das ist immer ein bisschen anstrengend, finde ich. Da muss man immer so viel kochen und so." - "Ja, stimmt." - "Na ja, und außerdem haben wir ordentlich gebechert. Bis in die Morgenstunden diskutiert. Da ist man um vier Uhr morgens hellwach." - "Haha, dafür ist man mittags um zwei müde." - "Genau... So, dann muss ich jetzt eben noch ein paar Prüfungen machen. "-"Bis nachher."
10.00 im Büro. Ich werde erstaunlicherweise nicht gefragt, ob ich mich prüfungsfähig fühle. Dabei stand das als Ankreuzoption oben auf dem Protokollbogen, den ich mitbringen musste (dementsprechend in einer Panikattacke am Samstagmorgen gesucht und erstaunlicherweise sofort gefunden habe... ich hatte ihn ordentlich weggelegt!!!). Scheinbar sehe ich unglaublich fit aus, sodass sie Frage heute wegfällt. Stattdessen geht es los mit: "Sie haben sich ja wenigstens mal ein schönes, fröhliches Thema ausgesucht."
Es folgt eine Frage zu Madonna und ihrer Rolle in Evita. Ich erzähle irgendwas von der Interdependenz zwischen Filmindustrie und Popmusikindustrie und trete aus Versehen die Professorin unterm Tisch. Huch!
Fragen zu "Singin' in the Rain": Ich denke daran, wie Kathleen und ich die DVD vor ziemlich genau einem Jahr in ihrer neuen Wohung von ihrem Gästebett aus geguckt und dabei eine Tüte Haribo Tropi Frutti in Sekundenschnelle aufgegessen haben und wie toll mir die Schuhe in dem Film gefallen haben und erzähle irgendwas über die Darstellung der neuen Technik und ihrer Demystifizierung. Anschließend trete ich die Professorin unterm Tisch. Oups.
Fragen zu Marlene Dietrich in "Der blaue Engel": Ich denke daran, dass das Filmplakat seit drei Jahren an unserer Wohnungstür hängt und ich den Film nie geguckt habe und spreche über die Schwierigkeiten der Genredefintion. Dabei trete ich aus Versehen unterm Tisch meine Professorin gegen ihre schicken schwarzen Stiefel.
10.30 Die Prüfung ist zuende. Die Professorin schickt mich raus und sagt: "So furchtbar waren die Fragen ja nun nicht, dass sie mich dauernd treten mussten."
10.31 vor der Tür.Ich treffe auf die Studentin, die nach mir Prüfung hat. Sie sieht aus, als hätte sie eine Woche lang nicht geschlafen, guckt mich verängstigt an und erzählt mir von ihrer Prüfungsangst. Ich bin kurz davor zu sagen, dass die Fragen ziemlich fies waren, kann mich aber gerade noch zusammenreißen. Stattdessen erzähle ich, ebenso wenig einfühlsam, dass ich darunter glücklicherweise nicht leide und Samstagnacht noch Bier trinken war, weil ich so entspannt war.
10.32 Ich werde wieder reingerufen. Die Professorin gratuliert mir und sagt mir mehrfach, dass sie mich ermutigen möchte, beim nächsten Mal etwas mehr von der Literatur und dem historischen Raster abzurücken und mir ein paar gewagtere Thesen zuzutrauen. Ich lächle sie an, bedanke mich und denke, dass das ein überflüssiger Ratschlag für eine angehende Stewardess ist. Aber das sage ich ihr lieber nicht. Stattdessen erzähle ich ihr, wie schön ich am Samstag mit Jan gelernt habe und dass man mir im Prüfungsamt meine gesamten Studienbuchseiten weggenommen habe, sodass ich nicht weiß, wie ich mich für die nächste Prüfung anmelden soll. Sie weiß es auch nicht. Von bürokratischen Vorgängen der Uni wissen die Akademiker nie irgendwas. Eigentlich weiß es außer den hexenartigen Wesen im Prüfungsamt eh keiner.
10.34 Bushaltestelle des X83er.
Anruf bei Lars, um ihn über die Leistungen meines "Riesenhirns" zu informieren. Anruf bei Jan, um ihn über seine Leistungen als meine erste "Lerngruppe" zu informieren. Beide sagen, ich solle feiern. Ich sage, ich müsse eine Reportage schreiben und abends arbeiten.
10.44 S1 Richtung Oranienburg. iPod mit Musicalsongs auf den Ohren. Grenzdebiles Lächeln auf den Lippen.
12.30 auf der roten Couch im Wohnzimmer. Ich öffne nach langer Zeit mal wieder die Informationen zu den Bewerbungsunterlagen, die ich noch benötige und mein Lächeln friert ein. Waaaaaaaaaaas wollen die? Einen nicht-tabellarischen Lebenslauf? Was soll das denn nun schon wieder? Ich habe doch gerade so viel Arbeit in meinen tabellarischen gesteckt. Der ist endlich schön und vorzeigbar. Und was wollen die? Einen nicht-tabellarischen. Na toll. Ich schreibe eine Hilfemail an die Menschen in meinem Adressbuch, die ich in Bewerbungsdingen für erfahren und kompetent halte und versuche Papa anzurufen.
Der ist nicht da, also rufe ich Mama an. Nicht wegen des Lebenslaufs. Sondern weil ich sie eh schon seit Tagen anrufen wollte.
13.15 an Daniels Schreibtisch, wo es wärmer ist.
Ich stelle fest, dass sie auf dem nicht-tabellarischen Lebenslauf auch noch ein Passfotos aufgeklebt haben wollen. Muss das wirklich sein? Ich denke an mein Personalausweisfoto, auf dem ich aussehe wie ein "Eskimo", ein "Goth", eine "10Jährige" und vor allem nach "This is not you. I can't accept this ID."
13.30 am LaptopIch bin mit den Bewerbungsunterlage überfordert und
prokrastiniere auf Facebook. Kathleen kann nicht verstehen, was für Fotos ich mit meiner Bewerbung mitschicken soll. Von was? Ach, was würde ich dafür geben, wenn die Deutschen wie die Amerikaner und Australier Fotos auf Bewerbungen verbieten würden.
13.50 am Telefon.
Rückruf von Papa, der auch nicht so richtig weiß, wie ein nicht-tabellarischer Lebenslauf aussehen soll, aber verspricht, sich meine erste Version abends mal anzugucken und zu korrigieren. Was die Lufthansa bei den Telefoninterviews von einem wissen will, weiß er auch nicht. Ich soll Bekannte von mir fragen, die als Stewardess arbeiten. Ich habe keine Bekannten, die als Stewardess arbeiten. Meine Freunde sind alle sehr intellektuell, im Gegensatz zu mir.
fortsetzung folgt